Ohne Titel (Schöpfungszyklus)
In der Bodensee-Region nahe Ravensburg befindet sich das weit verzweigte Netz von Einrichtungen der Zieglerischen e. V., Wilhelmsdorfer Werke evangelischer Diakonie. An einem ihrer Standorte, Haslachmühle, hat Andreas Felger die Kapelle mitgestaltet, ein vierteiliger Zyklus leuchtender Glasfenster prägt den Raum ebenso wie ein farblich dezenteres Holzrelief, dessen Partien aus Blattgold einen sanften Glanz entfalten.
Die unbetitelten Glasfenster zeigen einen Schöpfungszyklus. Zum zweiten Fenster schrieb Oliver Kohler: „Die Symphonie des Werdens ist angestimmt, das große Fest des Lebens hat begonnen. Farbe und Form werden in diesem Fenster nicht sparsam akzentuiert, sondern in bunter Fülle ausgeschüttet. Makrokosmos und Mikrokosmos, Pflanze und Tier feiern den Morgen der Schöpfung.“
Und, knapper noch, heißt es bei Marie Luise Kaschnitz:
Siehst Du, dass es gut ist? / Blumen lachen, / Vögel finden ein Nest, / alles Geschaffene lebt von der Nähe. // Und die Wüste in dir / wird wieder blühen.
In Relation zum ersten Fenster (Gesamtansicht siehe unten) beobachten wir eine aufsteigende Verschiebung der Bildebenen, als seien die Knospen aufgegangen, die Pflanzen gewachsen, die zuvor verborgenen Vögel nun sichtbar geworden. Die irdische buntfarbige Welt nimmt zwei Drittel der Bildfläche ein, eine stärkere Ausarbeitung der Komposition in die Vertikale wird erkennbar. Aufstrebende Formen wirken nahansichtiger, als seien wir in die Landschaft eingetreten, die wir zuvor aus der Ferne sahen. Die geschwungenen Linien im oberen Bilddrittel führen den Auftakt fort, der oben links im ersten Fenster einsetzte. Die atmosphärischen Himmelsströmungen verbinden die Fenster, während die figurative Welt von Flora und Fauna für sich stehen.
Nehmen wir alle vier Fenster in den Blick und gehen ganz vom unmittelbaren visuellen Eindruck aus, dann können die Fensterbilder unterschiedliche Wirkungen haben: bewegend von der Linienführung, freudig in den Gegenständen der Natur und ihrer Farbigkeit, erhellend in den transparenten, lichthaltigen Partien und Klarheit gebend durch die markanten Liniensetzungen und formalen Rahmungen, die Bild und Betrachter Sicherheit geben.
Text von Marvin Altner
Marvin Altner ist promovierter Kunsthistoriker und Dozent für Kunstwissenschaft an der Universität Kassel. Nach einem Volontariat an der Hamburger Kunsthalle in Hamburg war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator an Berliner und Hamburger Museen sowie als freischaffender Autor im Bereich der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart tätig. Seit 2012 lehrt er an der Kunsthochschule Kassel im Studiengang Kunstwissenschaft und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Andreas Felger Kulturstiftung, unter anderem als Autor, Ausstellungskoordinator und Betreuer der Datenbank der Werke von Andreas Felger.
