OHNE TITEL
1953
FEDERZEICHNUNG MIT TINTE AUF PAPIER
24,5 x 17 cm
Wenn wir heute, knapp 70 Jahre später, diese feine Federzeichnung des 18jährigen in der Textilproduktion der Pausa AG in Mössingen tätigen Musterzeichners Andreas Felger betrachten, so geschieht das nicht mehr nur mit Blick auf seine damaligen Entwürfe für Stoffdrucke, sondern auch vor dem Hintergrund seines opulenten Werks, das der Maler, Holzschneider, Bildhauer und Gestalter seitdem geschaffen hat, darunter vor allem seiner seit 1985 bis heute entstehenden abstrakten Werke. Man kann in dieser Zeichnung reduziert, in nuce, vieles von dem enthalten sehen, was in komplexen Formen auch in Felgers großformatigen Ölgemälden ausgearbeitet wird.
Das dünne Blatt, heute durch Alterung leicht vergilbt, hat regelmäßige Kanten, die ein Echo in dem Rand des Hochrechtecks findet, das der Zeichner zentral, aber deutlich oberhalb der geometrischen Mitte im Bildformat platziert hat. Die Unregelmäßigkeit der Begrenzungen des Rechtecks werden in den Linien innerhalb desselben weitergeführt. Der Betrachter spürt die handschriftliche Gestaltung der Striche, den Duktus. Wie die Hand des Künstlers die Feder, so führt die Linie das Auge des Betrachters. Und dazwischen ist fast nichts zu sehen.
Gerade deshalb aber wird vereinfacht erkennbar, was viele abstrakte Werke ausmacht, auch wenn es oft schwierig ist, Worte dafür zu finden: Formverdichtungen versus Formöffnungen oder -erweiterungen. Leere, der weiße Grund des Papiers, wird zum Raum, weil die Verdichtungen Materialität, Struktur, Substanz visualisieren. Je länger man auf diese Linien schaut, desto leichter kann es fallen, das Rechteck skulptural zu denken, organische Linien, etwa eine Holzmaserung zu assoziieren. Die Mitte des Blatts fängt das Licht ein (bzw. reflektiert es auf der weißen Fläche), zu den Seiten verdunkeln die Überschneidungen der Linien die Oberfläche. Auch dies geschieht nicht symmetrisch, sondern horizontal etwas nach rechts versetzt, eine Unregelmäßigkeit, die mit der vertikal noch oben verschobenen Platzierung des Rechtecks auf dem Blatt korrespondiert. So gewinnt die Darstellung stellenweise Gewicht, an anderen bleibt sie leicht und so immateriell wie ein weißes Blatt es sein kann.
Ein Jahr nachdem diese Zeichnung (die nur ein Exemplar aus einer größeren Gruppe kleinformatiger Federzeichnungen ist, die sich leicht zu einer Mappe zusammenfügen ließen) entstand, ging Andreas Felger nach München, um dort ein vierjähriges Kunststudium an der Akademie zu absolvieren. Die vorliegende Zeichnung bezeugt den Anfang der Suche nach dem Weg vom Handwerk des Gestaltens zur künstlerischen Komposition. Den Grundbegriffen der Formen: regelmäßig/unregelmäßig, verdichtet/geöffnet, licht/verschattet, leicht/gewichtig ist der Künstler auch in späteren Jahren treu geblieben, die elementaren Verhältnisse, die sie bezeichnen, bestimmen seine Kompositionen bis heute.
von Marvin Altner