Andreas Felger, ohne Titel (Die zehn Jungfrauen), 2005
Aquarell auf Papier, 37,5 x 27,5 cm © AFKS
Ohne Titel (Matthäus 25,1)
2005
Aquarell auf Papier
37,5 x 27,5 cm

 

Für den Betrachter des Bildes dominiert die aufsteigende Linie mit ihrem charakteristischen Wendepunkt. Aus den von unten kommenden Dunkelgestalten werden Lichtträger, die dem alles überflutenden Licht entgegengehen.

Der Künstler hat das Gleichnis nicht – wie häufig etwa bei den Figurengruppen in mittelalterlichen Kirchenportalen – vornehmlich als Kontrastprogramm verstanden: Hier die törichten, hier die klugen Jungfrauen, ohne Verbindung miteinander, ohne Brücke von den einen zu den anderen. Das Bild akzentuiert für mich die Botschaft des Gleichnisses anders. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, sondern um einen Weg vom Hier zum Dort. Es ist, als ob die von unten aufsteigenden Figuren die Chance erhalten, den Weg weiterzugehen, freilich um den Preis einer radikalen Neuorientierung.

Das Bild weckt in mir als unmittelbare Assoziation die Erinnerung an die politische Wende im Osten unseres Landes vor nun nahezu 20 Jahren. Der Umsturz der Machtverhältnisse war in der Tat eine einschneidende Kehre, die in vielen Lebensbereichen die eingeschliffenen Verhaltensweisen und Gepflogenheiten auf den Kopf stellte. Nicht alle haben die Wende in ihren Köpfen und Herzen geschafft! (…)

Hilft uns die Bildbetrachtung weiter? In der Kehre steht schon, die Parallelität der Gestalten auffällig verändernd, die erste der Lichtträgerinnen. Schaut sie noch auf jene, die aus dem Dunkel nachdrängen? Ist ihre veränderte Blickrichtung nach einem anderen Oben, der Lichtfülle der linken oberen Bildhälfte eine Einladung, die ‚Kehre‘ zu wagen?

Diese künstlerische Auslegung der alten Bildgeschichte atmet anthropologischen Optimismus. Oder sollte ich sagen: Christliche Hoffnung? Auch jene, die jetzt noch im Dunkeln wandern, können sich dem Licht zuwenden und so zu Lichtträgern werden.

Text von Joachim Wanke

*1941 in Breslau, Studium Philosophie und Theologie, 1973 Promotion. Ab 1975 Dozent für neutestamentliche Exegese am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt, seit 1980 als Professor. 1981 Bischof und Apostolischer Administrator in Erfurt und Meiningen. Seit 1994 Bischoff der Diözese Erfurt. 1998–2010 Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz. Emeritierter Bischof von Erfurt seit 2012.

Textausschnitt aus: Joachim Wanke, Die Wende wagen, in: Norbert Lammert (Hg.), So sehe ich die Bibel. Persönliche Einblicke in das Buch der Bücher, mit Aquarellen von Andreas Felger, Gnadenthal 2008, S. 78–79.