Andreas Felger, ohne Titel, 2007
Aquarell auf Papier, 36,5 x 27,5 cm © AFKS
OHNE TITEL
2007
AQUARELL AUF PAPIER
36,5 x 27,5 CM

 

Wir betrachten ein handliches Blatt, wenig größer als ein Din A4-Blatt, doch die Abweichung vom gewohnten Format alltäglichen Schriftverkehrs lässt uns genauer hinschauen. Auch die unregelmäßigen Blattkanten, die abgetönte Papierfarbe, die kräftigere Qualität des Papiers und die feine Textur der Oberfläche tragen dazu bei, in diesem Blatt einen materiellen Gegenstand zu sehen und keine rein(weiß)e Fläche, die Berührungen kaum Widerstand bietet.

Die Unregelmäßigkeiten in der papierenen Oberfläche treten besonders unter den halbtransparenten Tönen der acht Farbbahnen hervor, die sich nur an ihren Überschneidungsflächen verdichten. Die ruhige Hand Andreas Felgers erzeugt bloß leichte Absätze und Wellen in den Konturen der Linien. Ihren sanften Fluss unterbrach und zerfaserte der Künstler mutwillig mit trockenen Pinselhaaren bis hin zu Kratzspuren vom holzigen Ende des Pinselstils.

Die Farbbahnen erscheinen gleichförmig und geordnet und doch behauptet jede ihr Eigenleben. Rechts und links rahmen zwei orange-rötliche Vertikalen die Bildfläche, zwischen ihnen, nach links versetzt eine tief dunkelblaue Vertikale. Überlagert wird sie von einer grünen gebogenen Linie, die oben mit einem gelben Bogen zusammentrifft, beide werden von einer rotbräunlichen Diagonale überschnitten und alle Linien werden schließlich von zwei gegenläufig gebogenen blassblauen Bögen gekreuzt, die sich als einzige der Horizontalen annähern.

Das Auge folgt ihnen gern … und mit der Zeit der Betrachtung lassen sich Anklänge an Figuren, Flüsse, Äste vernehmen. Ob hier korrespondierende Farbbahnen gesehen werden oder die Anmutung des Körperhaften erahnt wird – das Verhältnis von Abstraktion zu Figuration bleibt offen. Das aber ist die Kunst: Die Simplizität der Einzelformen und -farben in ein anspielungsreiches, belebtes Netz von Beziehungen zu verwandeln, die bei längerer Betrachtung fast etwas Menschliches haben.

Text von Marvin Altner

Marvin Altner ist promovierter Kunsthistoriker und Dozent für Kunstwissenschaft an der Universität Kassel. Nach einem Volontariat an der Hamburger Kunsthalle in Hamburg war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator an Berliner und Hamburger Museen sowie als freischaffender Autor im Bereich der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart tätig. Seit 2012 lehrt er an der Kunsthochschule Kassel im Studiengang Kunstwissenschaft und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Andreas Felger Kulturstiftung, unter anderem als Autor, Ausstellungskoordinator und Betreuer der Datenbank der Werke von Andreas Felger.